"Aufgedeckte Geheimnisse"

von Carl Djerassi

 

V o r w o r t

 

 

Wer einen neuen Roman zu lesen beginnt und auf ein Vorwort stößt, verspürt automatisch ein gewisses Unbehagen. Ein Vorwort deutet im allgemeinen darauf hin, dass ein Wissenschaftler am Werk war, der sich bemüßigt fühlt, zu erläutern, warum das vorliegende Buch überhaupt geschrieben wurde, und sich anschickt, dies mit Caveats, gelehrten Verweisen oder schamloser Eigenwerbung darzulegen. Warum begebe dann auch ich mich auf dieses unsichere Terrain? Weil ich ein halbes Jahrhundert lang ein Wissenschaftler war, dessen Schriftstellerkarriere erst im Alter von etwa 60 Jahren begann - zu spät, als dass der Leopard seine Flecken hätte ändern können. Darüber hinaus liegt meiner "Science-in-Fiction" (nicht zu verwechseln mit Science-Fiction) eine pädagogische Motivation zugrunde, die zu leugnen töricht von mir wäre, auch wenn dieses Eingeständnis offensichtliche Risiken in sich birgt.

 

Nachdem dieses caveat lector des "Herrn Professor Doktor" abgehakt wäre, möchte ich, als schlichter "Herr Autor", erläutern, was mich bewogen hat, meine beiden letzten Romane - Menachems Same und NO - unter dem Titel Aufgedeckte Geheimnisse in einem Band zusammenzufassen, quasi als das Yin zum Yang des ersten Bandes, Stammesgeheimnisse, der die beiden ersten Romane meiner Tetralogie enthält, Cantors Dilemma und Das Bourbaki Gambit.

 

Die erste Erklärung ist sehr einfach. Genau zu dem Zeitpunkt, als die ursprünglichen deutschen Ausgaben aller vier Romane vergriffen waren, erwies sich ihr pädagogischer Wert als aktueller denn je, was die Tatsache beweist, dass die englischen Ausgaben ständig neu aufgelegt werden und fast jedes Jahr Übersetzungen in weitere Sprachen hinzukommen. Aber worin genau besteht dieser Wert?

 

Zunächst war meine Tetralogie von "Science-in-Fiction"-Romanen als ein Mittel konzipiert, um unter dem Deckmantel der Fiktion wichtige Aspekte der Kultur und des spezifischen Verhaltens von Naturwissenschaftlern einem Publikum nahezubringen, das den Naturwissenschaften distanziert oder sogar ablehnend gegenübersteht - das heißt, ich wollte beschreiben, wie sich Naturwissenschaftler verhalten, und nicht nur schildern, was wir tun. Die Aufnahme, die Cantors Dilemma und Das Bourbaki Gambit insbesondere in den USA fanden, zeigte jedoch, dass auch Naturwissenschaftler selbst - ob Studenten oder altgediente Praktiker - geeignete Leser sind, da sich die meisten von ihnen der kulturellen Eigentümlichkeiten ihres eigenen Stammesverhaltens gar nicht bewusst sind. Die beiden Romane werden inzwischen in einer Vielzahl von Seminaren als Lektüre empfohlen oder sogar als Lehrbuch verwendet. Während Cantor und Bourbaki sich ausschließlich auf die universitäre Welt konzentrierten, wollte ich in den abschließenden zwei Bänden mein Netz weiter auswerfen und auch bestimmte Verhaltensmuster sowohl von Forschern in der Industrie als auch von Naturwissenschaftlern einfangen, die in einer geopolitischen Arena agieren. Vor allem aber stellte ich fest, dass ich in Menachems Same und in NO immer wieder ein naturwissenschaftliches Thema aufgriff, das mich seit Jahrzehnten beschäftigt, nämlich die menschliche Fortpflanzung.

 

Mein Interesse daran begann vor etwa fünfzig Jahren, als ich, ein in der Forschung tätiger "harter" Chemiker, an der ersten Synthese eines hormonellen oralen Verhütungsmittels beteiligt war. In den zurückliegenden dreißig Jahren, in denen ich diesem Interesse als "weicherer" Naturwissenschaftler weiter nachging, befasste sich ein Großteil meiner Lehrtätigkeit, meiner Vorträge und Veröffentlichungen mit den sozialen Implikationen und der Erkenntnis der bevorstehenden Trennung von Sex und Befruchtung - ein Thema, das eine Fülle praktischer und ethischer Fragen aufwirft. In Menachems Same schilderte ich die 1991 in Belgien erfolgte Entdeckung von ICSI (Intracytoplasmatische Spermieninjektion, d.h. die Injektion eines einzelnen Spermiums direkt in die Eizelle) - die wohl bedeutsamste Erfindung auf dem aufstrebenden Gebiet der In-vitro-Fertilisation. Ich kam zu der Überzeugung, dass diese Methode, die ursprünglich zur Behandlung der Unfruchtbarkeit bei Männern entwickelt wurde, in naher Zukunft von fruchtbaren Paaren benutzt werden würde und dass sie ihre stärksten Auswirkungen auf die Frauen haben könnte. Gestützt wird diese Annahme von der Beobachtung, dass das erste ICSI-Baby zwar erst elf Jahre alt ist, inzwischen aber bereits über 100 000 ICSI-Babys geboren wurden. Während der Roman die praktischen Aspekte von ICSI schildert, entschied ich mich für ein anderes Genre - nämlich "Science-in-Theatre" -, um die enormen ethischen Folgen von ICSI zu beleuchten. Diese werden in meinem Bühnenstück Unbefleckt (Haymon Verlag, 2003) anhand der gleichen Personen veranschaulicht, die schon in dem Roman Menachems Same auftreten.

 

Ein weiterer wichtiger Punkt der menschlichen Fortpflanzung, der meine Überlegungen und meine Veröffentlichungen bestimmt, ist das Fehlen einer "Pille für Männer" und mein zunehmender Pessimismus, dass jemals ein Verhütungsmittel für den Mann entwickelt werden wird, wenn man bedenkt, dass die künftig bestehende Möglichkeit, Eizellen und Sperma zu lagern, gekoppelt mit einer Sterilisation, Verhütungsmittel in nicht allzu ferner Zukunft überflüssig machen könnte. Dabei gibt es die "Pille für Männer" bereits in Form von Viagra, nur dass es dabei um sexuelle Leistung und nicht um die Kontrolle der Fruchtbarkeit geht. In meinem letzten Roman, NO, beschäftige ich mich mit dieser Frage und anderen Ansätzen bei der Behandlung der männlichen Impotenz, und zwar in einem realistischen Kontext im Rahmen eines typischen Biotech-Unternehmens - wie sie in meinem persönlichen geographischen Umfeld des Großraums San Francisco so zahlreich vertreten sind.

 

Ähnlich wie C.P. Snow, der englische Naturwissenschaftler und Schriftsteller, der den Begriff von den "Zwei Kulturen" prägte, entschloss ich mich, in NO alle Personen aus den früheren Romanen meiner Tetralogie zu einer Art Finale zu versammeln, in dem das Wie, Was und Warum der naturwissenschaftlichen Forschung zusammengefasst wird. Man könnte auch sagen, dass meine früheren Stammesgeheimnisse und jetzt meine Aufgedeckte Geheimnisse Bemühungen meinerseits darstellen, die Kluft zwischen den zwei Kulturen zu überbrücken. Doch jedes Geheimnis muss letzten Endes gelüftet werden. Nachdem ich fast mein Leben lang Geheimnisse gehütet habe, bin ich nun dazu übergegangen, sie zu lüften.

 

Carl Djerassi

                                   San Francisco, Dezember 2004