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Wacher Geist und Herr der Pille
22. Oktober 2005

Wacher Geist, weißer Bart und ein Leben, gleich einer wechselvollen Trilogie. Vom jüdischen Emigranten zu einem der fünf bedeutendsten Chemiker weltweit, zum gefeierten Schriftsteller: Carl Djerassi erfand im Alter von 28 Jahren "die Pille". CAROLINE KLEIBEL

Mit 82 erlebt er die österreichische Uraufführung seines Bühnenstücks "Ego".

"Es muss wohl", mutmaßt Carl Djerassi, "einer jener knallharten, hemdsärmeligen Journalisten der späten 50er Jahre gewesen sein, der, während er mit zwei Fingern auf seine Remington einhämmerte, plötzlich beschloss, dem Wort Pille immer den bestimmten Artikel voranzustellen." Aus dem prosaischen Oberbegriff wurde ein starkes Reizwort. Genauso nebenbei wie der Name war 1951 "die Pille" selbst entstanden. Wegen seiner jüdischen Herkunft aus Österreich vertrieben, hatte es Djerassi als Leiter der Forschungsabteilung einer Arzneimittelfirma in Mexiko zunächst gar nicht auf Geburtenregelndes abgesehen gehabt. Vielmehr war ihm und seinem Team daran gelegen gewesen, organische Verbindungen, so genannte Steroide, zu untersuchen, um Kortison zu gewinnen. Ein Mittel, das als Wunderdroge zur Bekämpfung von Arthritis und anderer Erkrankungen galt. Was er (zudem) fand, war ein Steroid, das sich zur oralen Empfängnisverhütung eignete. "Unsere Idee bestand darin, eine synthetische Variante des weiblichen Schwangerschaftshormons herzustellen, des Verhütungsmittels schlechthin. Keine Frau kann jemals während einer Schwangerschaft schwanger werden", erklärt Djerassi anschaulich.

Geburtenkontrolle als Tischgespräch Carl Djerassi gelang, wovon schon Sigmund Freud zu Anfang des vorigen Jahrhunderts als einem "großen Triumph der Menschheit" geträumt hatte: "... die Kinderzeugung dem Zufall zu entreißen und zu einer beabsichtigten Handlung zu erheben." Djerassis bahnbrechende Erfindung dividierte Sex und Fortpflanzung auseinander und ließ die menschliche Reproduktion berechenbar werden. Der Umstand freilich, dass die Pille nun die Entscheidung über Kind oder nicht Kind in die Hände der Frauen legte, gereichte diesen nicht zu ungeteilter Freude. In den frühen feministischen Schriften von Simone de Beauvoir oder Betty Friedan war noch viel vom Bedürfnis nach verbesserter weiblicher Kontrazeption die Rede gewesen und davon, dass eine befreite Frau selbst über ihre Fertilität bestimmen können müsste. Später wurden die Pille und ihr "Vater" Carl Djerassi, der sich selbst lieber "Die Mutter der Pille" nannte, zuweilen vehement kritisiert. Namhafte Vertreterinnen der Frauenbewegung wetterten gegen den neuen "Zwang zum Sex", wo vorher noch die Angst vor ungewollter Schwangerschaft Zurückhaltung auferlegt hatte, und gegen männliche Forscher, die ausschließlich am Frauenkörper herumexperimentierten. Von den gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen ganz zu schweigen. Nebenwirkungen gesteht denn auch Djerassi seiner Erzeugung zu: "Es wäre total naiv, zu glauben, dass Impfstoffe oder Verhütungsmittel, Medikamente also, die von gesunden Menschen eingenommen werden, keine negativen Folgen hätten." Erstaunen mag aber - und hier schließt sich der Kreis der Kritik - was der Professor an der US-Elite Universität Stanford heute als die "ärgste Nebenwirkung" sieht: Die Ignoranz mancher Männer im Bezug auf Verhütung. "Die Pille", so sagt er, "hat wichtige soziale Beiträge geleistet, nicht zuletzt den, dass Geburtenkontrolle zu einem akzeptablen Thema für Tischgespräche geworden ist. Gleichzeitig hat sie eine gesellschaftliche Atmosphäre geschaffen, in der eine weitere Verantwortung - in diesem Fall die Verantwortung für Empfängnisverhütung - auf die Schultern der Frauen abgewälzt wurde. Viele Frauen nahmen diese Verantwortung gerne auf sich, weil sie darin ein wichtiges Zeichen der Emanzipation und der Befreiung von der Vorherrschaft der Männer sahen, doch eine Folge dieser Errungenschaft war auch ein allgemeines Achselzucken seitens der Männer. Eine Entwicklung, die ich zutiefst bedaure."

Auch wenn Carl Djerassi rückblickend die Pille keineswegs als seine wichtigste Entdeckung sieht, so weiß er doch, dass sie es war, die ihn berühmt gemacht hat. Eine Popularität, die er längst weit jenseits von Fachzirkeln zu nützen versteht. "Es reicht nicht aus, zu forschen und wichtige Dinge zu entdecken. Stattdessen ist es wichtig, diese Probleme und Fragen auch in die Gesellschaft hineinzutragen", fasst er sein wissenschaftliches Credo zusammen. Folglich gilt sein Forschungsinteresse seit Mitte der 80er Jahre nicht mehr nur der Chemie im engeren naturwissenschaftlichen Sinne, sondern zunehmend der Chemie des Zwischenmenschlichen. Immer wieder setzt er sich als Dramatiker literarisch mit den durch die Wissenschaft hervorgerufenen gesellschaftlichen Umbrüchen auseinander. Begriffe wie "Mutter", "Familie" oder "Zwillinge" etwa standen bis vor kurzem in ihrer Bedeutung noch weit gehend außer Zweifel. Zu welchen Irritationen und Verwicklungen die Methode der künstlichen Befruchtung führen kann, erzählt Djerassi in seinem jüngsten Buch "Tabu": Zwei lesbische Frauen werden durch Samenspenden des jeweiligen Bruders der Partnerin schwanger, während ein befruchtetes Ei auch in den Uterus der bislang kinderlosen Ehefrau eines der beiden Brüder eingepflanzt wird. 2500 Kilometer voneinander entfernt kommen so an ein und demselben Tag zwei Babys zur Welt. "Zwillinge" werden von zwei "Müttern" in zwei "Familien" geboren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine spannende Geschichte! Überhöhter Geltungsdrang aufs Korn genommen wird in Djerassis Stück "Ego", das seit dieser Woche in St. Pölten auf dem Spielplan steht. In der Annahme, dass nichts das eigene Ansehen sosehr steigere wie der Tod, täuscht der gefeierte und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Schriftsteller Stephen Marx sein Ableben vor, um in den Genuss seines eigenen Nachruhms zu kommen. Mit neuer Identität will er weiterschreiben, doch der Schöpfer der Fiktion hat seine Rechnung ohne die Wirklichkeit gemacht: Sein Psychotherapeut verstrickt sich in Gewissenskonflikte und seine gekränkte Ehefrau sinnt auf Rache. In diesem Skript finden sich, wie Djerassi "ebenso schamlos wie entwaffnend ehrlich" zugibt, durchaus autobiografische Züge. Die Eitelkeit, vorher schon wissen zu wollen, wie nachher einmal über einen gesprochen wird, das sei, so meint er im persönlichen Gespräch augenzwinkernd, vielleicht nicht sehr sympathisch, aber interessant und wichtig und außerdem ein "Charakterfehler", der vielen Naturwissenschaftern anhafte. Den Anwesenden nicht ausgenommen.

Selbstdarstellers Geschenk an Österreich Carl Djerassi ist eben nicht nur Naturwissenschafter, Schriftsteller, Kunstmäzen, Geschäftsmann, Querdenker und Grenzgänger, sondern auch ein begnadeter Selbstdarsteller. Seine Extravaganzen machen ihn zu einem Gesamtkunstwerk, das sich weder einordnen noch vereinnahmen lässt. Zum 80. Geburtstag hat ihm die Bundesregierung aus freien Stücken die österreichische Staatsbürgerschaft zurückverliehen, die Post widmete ihm eine Sondermarke - was in den USA nur Verstorbenen zuteil wird - und eine österreichische Zeitschrift ernannte ihn zum "größten lebenden Österreicher". Erst langsam empfindet der so Geehrte Versöhnung, wenngleich kein Vergessen. Äußeres Zeichen dieser inneren Versöhnung ist sein neuestes Bühnenwerk "Phallstricke", ein intelligenter Wissenschaftskrimi, der in der Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums in Wien spielt. Djerassi sieht darin sein "Geschenk an Österreich", das bis dato aber noch nicht angenommen wurde. In London wurde das Stück bereits erfolgreich aufgeführt. Nun sucht der Autor dafür in Abwandlung von Luigi Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" in Österreich eine Bühne. Dass es ihm noch nicht gelungen ist, sich und seinem Publikum diesen Wunsch zu erfüllen, mag Beweis dafür sein, dass es - während die Töchter noch unbesungen sind - auch die "großen Söhne" nicht immer ganz leicht haben, gehört zu werden.

© SN.

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