Theaterdonner auf dem Chemiker-Kongress

Von Wolfram Koch,
Frankfurt am Main

Oxygen. C. Djerassi und R. HofmannDies ist nicht nur der Bericht über eine Premiere, es ist auch für den Rezensenten ein echtes "erstes Mal". Schließlich ist die Rolle des Theaterkritikers eher ungewöhnlich für einen Chemiker, der sich üblicherweise mit wissenschaftlichen Texten auseinandersetzt. Doch es ist der Anlass, der all dies möglich macht: Die in ihrer Konzeption ganz neue Jahrestagung Chemie 2001 der Gesellschaft Deutscher Chemiker in Würzburg wurde am 23. September durch die Deutschlandpremiere des Theaterstücks "Oxygen" von Carl Djerassi und Roald Hoffmann eröffnet. Diese beiden außergewöhnlichen Chemiker haben sich neben ihren wissenschaftlichen Beiträgen in letzter Zeit zunehmend einer vielfältigen literarischen Tätigkeit gewidmet. Carl Djerassi, vielen nicht nur als "Erfinder der Pille" sondern auch als Autor verschiedener "Science-in-Fiction-Romane" bekannt, wurde anlässlich der Premiere mit dem GDCh-Preis für Schriftsteller für sein literarisches Œuvre ausgezeichnet. Das GDCh-Ehrenmitglied Roald Hoffmann erhielt bereits 1997 den Literaturpreis des Fonds der Chemischen Industrie.

Auch wenn das Stück bereits vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit dessen Welturaufführung in San Diego von Richard Zare in der Angewandten Chemie besprochen wurde, soll auch hier die Einschätzung der Darbietung des Ensembles des Würzburger Stadttheaters unter der Leitung der Regisseurin Isabella Gregor nicht gänzlich unabhängig von einer Würdigung des Theaterstücks als solchem vorgenommen werden. Also, worum geht es? Zum hundertjährigen Jubiläum der ersten Nobelpreise im Jahre 1901 soll ein Retro-Chemie-Nobelpreis für bahnbrechende Leistungen auf dem Wege zur modernen Chemie verliehen werden. Das Publikum wird Zeuge der Diskussionen des Chemie-Nobelpreis-Komitees, das sich nach kurzer Diskussion auf die Entdeckung des Sauerstoffs als die zu würdigende Leistung einigt. Doch wer soll den Preis hierfür erhalten? Carl Wilhelm Scheele, der schwedische Apotheker, der das Gas vermutlich als erster erzeugte, doch dieses Ergebnis weder anschließend publizierte noch richtig interpretierte? Oder der englische Geistliche Joseph Priestley, der wie Scheele Sauerstoff herstellte und dies auch publizierte, doch ebenfalls der Phlogistontheorie verhaftet war und seine Entdeckung daher nicht korrekt einzuordnen wusste? Oder aber doch Antoine Laurent Lavoisier, der zwar erst nach Scheele und Priestley und basierend auf deren Arbeiten Sauerstoff erzeugte, aber als erster die Rolle dieses Gases in Verbrennung, Korrosion und Atmung erkannte und damit die Chemische Revolution einläutete?

Foto: Petra WinkelhardtDie Frage, welchem dieser drei Chemiker die Ehre und Anerkennung als Entdecker des Sauerstoffs gebührt, wird nun auf zwei Ebenen thematisiert: Zum einen treffen die drei Chemiker, die alle die Priorität der Entdeckung für sich reklamieren, zusammen mit ihren Lebensgefährtinnen bei einem fiktiven Treffen auf Einladung des schwedischen Königs im Jahre 1777 in Stockholm zusammen. Zum anderen versuchen Astrid Rosenqvist, die Vorsitzende des Nobelkomitees und ihre drei männlichen Kollegen Hjalmarsson, Kallstenius und Svanholm, in der Gegenwart zu klären, wer denn nun wirklich als Entdecker des Sauerstoffs mit dem Retro-Nobelpreis auszuzeichnen ist. Dabei treten Hjalmarsson, Kallstenius und Svanholm als Anwälte ihrer jeweiligen Favoriten Lavoisier, Scheele bzw. Priestley auf. Die Verknüpfung zwischen dem Heute und dem Gestern und den entsprechenden Akteuren wird dadurch verstärkt, dass jeweils ein Schauspieler beide Rollen, die eines der drei Protagonisten im 18. Jahrhundert und des jeweiligen "Paten" im Nobelkomitee spielt. Auch die Rollen von Astrid Rosenqvist und Priestleys Frau sowie von Sara Pohl, der Haushälterin und Lebensgefährtin Scheeles und Ulla Zorn, einer jungen Historikerin, die dem Nobelkomitee zunächst als Protokollantin dient, aber im Verlauf des Stückes immer wichtiger wird, werden von jeweils einer Schauspielerin wahrgenommen. Dabei zeigen sich interessante Parallelen zwischen den Charakteren vor allem der männlichen Paare: Damals wie heute geht es den Akteuren nicht nur um die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ebenso um Anerkennung und Ruhm. Dieser Kunstgriff der gemeinsamen Rollen unterstreicht in aller Deutlichkeit die Botschaft des Stückes: Die Wissenschaften haben sich in den letzten Jahrhunderten ungemein fortentwickelt, die Eitelkeiten und Empfindlichkeiten der beteiligten Wissenschaftler sind dagegen heute nicht anders als vor 200 Jahren. Oder, wie Madame Lavoisier zu Beginn des Stückes ihren Mann zitiert: "Was Wissenschaft produziert, ist Wissen. Was Wissenschaftler produzieren, ist Ansehen."

Foto: Petra WinkelhardtDie voll besetzte Premiere in Würzburg war ein Heimspiel, fand sie doch vor einem Publikum statt, das fast ausschließlich aus Chemikern bestand. Entsprechend groß war die Freude über die vielen subtilen Anspielungen auf die Tücken und Fallen des Wissenschaftsbetriebs, etwa die Unsitte, Gutachten nicht pünktlich zu liefern oder die gekränkte Eitelkeit, nicht wie gewünscht von der Community wahrgenommen zu werden. Hier hat vermutlich fast jeder irgendwo schmunzelnd sich selbst oder seine Umgebung wieder erkannt – ein sicheres Rezept für Erfolg beim Publikum. Die durchweg sehr jungen Schauspieler waren mit viel Engagement und wohl auch Spaß dabei. Dies dokumentiert sich u. a. darin, dass sie sich zur Vorbereitung auf ihre Rollen zuvor bei Chemikern an der Universität Würzburg mit der Materie vertraut gemacht hatten. Auch die bisweilen sichtbare Premierennervosität tat diesem guten Eindruck keinen Abbruch sondern erhöhte eher die Sympathiewerte. Die vielen schnellen Szenenwechsel zwischen den Handlungen im Jahr 1777 und den Sitzungen des Nobelkomitees in der Gegenwart, in denen auch die Schauspieler ihre Rollen wechseln müssen, gibt dem Stück eine gehörige Portion Dynamik, die zum Glück nur selten in Unruhe umschlägt. Das Bühnenbild ist eher karg und stärkt damit die Rolle der Dialoge, in denen allerdings manchmal Schwächen auftauchen. So etwa wenn Rosenqvist und Hjalmarsson auf ihre frühere Liebesbeziehung anspielen, deren Bezug zum eigentlichen Handlungsstrang unklar bleibt. Hier kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die Autoren dieses Detail eingebaut haben um auch dem wissenschaftlich nicht vorbelasteten Publikum – dem manche der Insider-Pointen vermutlich verschlossen bleiben – etwas zu bieten. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem insgesamt etwas zu dick aufgetragenen Einsatz der Musik oder insbesondere mit der Szene, in der Scheele, Priestley und Lavoisier ihre Experimente zur Erzeugung von Sauerstoff dem schwedischen König vorführen. In der Würzburger Inszenierung treten hier Puppen an die Stelle der Schauspieler und die Szene entwickelt zunehmend Klamauk-Charakter. Hier wäre weniger vermutlich mehr gewesen.

Doch dürfen diese kleinen kritischen Anmerkungen nicht darüber hinweg täuschen, dass die Aufführung ein großer Erfolg war und zu Recht mit lang anhaltenden Beifall bedacht wurde. Für den Naturwissenschaftler und insbesondere den Chemiker bietet dieses Stück zweifellos zwei Stunden beste Unterhaltung. Aber auch für den wissenschaftlich nicht vorbelasteten Besucher hält es viel Interessantes bereit, lernt er doch nicht nur eine bedeutende Episode der Chemiegeschichte näher kennen, sondern zugleich eine ganze Menge über die menschlichen, und manchmal gar nicht so hehren Seiten des Wissenschaftsbetriebes.

Neben weiteren Aufführungen vor wissenschafts- oder gar chemienahen Publikum, so z. B. im Deutschen Museum in München und in Leverkusen, wird "Oxygen" die ganze Spielzeit 2001/02 in den Kammerspielen des Würzburger Stadttheaters zu sehen sein. Es wird interessant zu beobachten, wie die Würzburger dieses ungewöhnliche Theaterstück annehmen werden. Von dieser Stelle aus wünsche ich ihm viel Erfolg.

Fotos: Petra Winkelhardt