LAST AUTOBIOGRAPHY

By Carl Djerassi

Inhalt

Caveat Lector 9
Freitod 18
Die bittersüße Pille 26
Heimat(losigkeit) 102
,,Jude" 186
,,Professor für Professionelle Deformation" 236
,,Schriftsteller" 292
,,Sammler" 376
Bonobos 399
Was wäre, wenn? 434
The Big Drop 458
Biografischer Abriss 474
Vom gleichen Autor 476
By the Same Author 477


P. 9

Caveat Lector


P. 13

Als ich meine erste Autobiografie schrieb, war ich noch Naturwissenschaftler, für den alles frei Erfundene von Berufs wegen tabu war, bevor er das Territorium des Schriftstellers betrat. Im Laufe dieser Verwandlung wurde mir klar, dass sich die Wahrheit nur in der Fiktion - genau gesagt unter dem Deckmantel der Fiktion - mitteilen lässt. Falls Autobiografie also per definitionem eine Art freie Erfindung ist, da sie innerhalb des engen Rahmens eines inneren Filters verfasst wird, dann sind die Romane und Dramen, die ich geschrieben habe, das genaue Gegenteil, nämlich auf Tatsachen beruhende, ungeschminkte Biografie. Manche Romanautoren sind verkappte Autobiografen, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass ich zu dieser Untergruppe gehöre.

P. 14

Wer sich an dieser Stelle fragt: ,,Na und? Wen interessiert das schon?", der sollte erst gar nicht weiterlesen. Denn ob es uns gefällt oder nicht, Autobiografien sind nun einmal mit einem Hauch Exhibitionismus behaftet, und Leser von Autobiografien sind zumindest teilweise auch Voyeure, die sich, selbst wenn sie es nicht zugeben, für die skandalösen oder unerwarteten Aspekte im Leben des Autobiografen interessieren. Da ich mehrere Autobiografien geschrieben habe, bin ich mir dieses Problems zumindest bewusst und ehrlich genug, das zu sagen. Diese ,,allerletzte" Autobiografie wird sicherlich auch persönliche Dinge enthalten, die die voyeuristischen Vorlieben der Leser bedienen, aber sie wird auch viele Probleme und Themen behandeln, die mich seit Jahrzehnten beschäftigen. Einige davon seien hier genannt: die wachsende Kluft zwischen den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften, den Sozialwissenschaften und der Massenkultur; der Abstand zwischen den Ländern der Ersten Welt und den Entwicklungsländern, die ich inzwischen als geriatrische beziehungsweise pädiatrische Länder bezeichne; die Probleme der Bevölkerungsexplosion, wobei sich das Hauptaugenmerk in den geriatrischen Gesellschaften jetzt auf die Empfängnis richtet und in den pädiatrischen auf die Empfängnisverhütung; die Rolle des Theaters als ,,Edutainment"; die Bedeutung des Freitods und vieles mehr. Sie alle besitzen eine didaktische Komponente, manchmal absichtlich, manchmal ungewollt. Gewiss ist das der Grund, weshalb mir von neueren Freunden, insbesondere von Frauen, gelegentlich vorgeworfen wird: ,,Du hältst mal wieder Vorträge." Dazu kann ich nur sagen: nolo contendere. Mittlerweile ist mir diese Schwäche schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, um mich noch ändern zu können.

Ein letzter Grund, mich abermals auf autobiografisches Terrain zu begeben, ist die sich verändernde Leserschaft, an die ich mich wende. Der Schattensammler, mit der im Untertitel implizierten Garantie, meine allerletzte Autobiografie zu sein, wird zuerst in deutscher Übersetzung erscheinen, der Sprache meiner frühen Jahre bis zu der erzwungenen Emigration aus Österreich (aber nicht die Sprache, in der ich heute schreibe oder träume) - eine Sprache, die vorrangig in einigen der geriatrischsten Ländern der Welt gesprochen wird. Obwohl ich mich noch immer für geistig


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hellwach und für jünger halte, als ich eigentlich bin, ist mir bewusst, dass ich als ein Mensch schreibe, der binnen eines Jahrzehnts tot sein wird, nach Ablauf dessen fast ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs über 65 sein wird. Folglich wird das, was ich in diesem Buch zu sagen habe, eher ein älteres Segment der Bevölkerung ansprechen, das im Übrigen vermutlich mehr liest als seine jüngeren Gegenstücke. Dies wiederum hat mich veranlasst, diese letzte Autobiografie rückwärts zu erzählen, beginnend in der Zukunft und endend mit früheren Abschnitten meines Lebens, die ich bereits in meinen früheren Autobiografien geschildert habe, die ich nun aber noch einmal aufgreife, um bewusst die Schatten in den Fokus zu rücken. Ich werde daher ausführlich aus diesen inzwischen zumeist vergriffenen Autobiografien zitieren, ohne mich, wie ich hoffe, des Selbstplagiats schuldig zu machen; außerdem werde ich bestimmte Passagen (die sich durch einen anderen Schriftsatz abheben) aus meinen Romanen, Kurzgeschichten und Theaterstücken zitieren, um mir in Erinnerung zu rufen und dem Leser zu demonstrieren, wie viel von meinem persönlichen Leben nur dort enthüllt wurde, und das oft unbewusst. Dennoch wird nicht alles düster sein, weil ich immer daran denken muss, was Cynthia Ozick einmal so großartig ausgedrückt hat: ,,Heutzutage lebt ein heißer Sud aus Erinnerung und Fantasie in der Ader meiner Freude." In Anbetracht meines Alters besteht kein Zweifel, dass dieses Buch für mich zur ,,Pflichtarbeit" wurde, auch wenn ich realistisch genug bin einzusehen, dass es dadurch nicht zur Pflichtlektüre wird. Was die Lektüre betrifft, so habe ich bewusst von einer chronologischen Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln abgesehen, die jeweils Themen behandeln, die mich in den letzten zwei Jahrzehnten stark beschäftigt haben - und mit denen ich mich für den absehbaren Rest meines Lebens befassen werde. Ich möchte den Leser ermuntern, das eine oder andere Kapitel ganz nach Belieben zu lesen, zu überfliegen oder sogar zu überspringen. Unverblümt gesagt, habe ich mich an Goethes Empfehlung in der Einleitung des ,,Faust" gehalten:

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.


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Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es muß euch glücken; Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht. Was hilft’s, wenn ihr ein Ganzes dargebracht? Das Publikum wird es euch doch zerpflücken.


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Freitod

Associated Press, 30. Oktober 2023: MITERFINDER DER PILLE UND AUTOR CARL DJERASSI VERMISST. VERMUTLICH SELBSTMORD.

Carl Djerassi, Miterfinder steroidaler oraler Kontrazeptiva und bisweilen einer der Väter oder die Mutter der Pille genannt, ist einen Tag vor seinem 100. Geburtstag unter mysteriösen Umständen verschwunden. Djerassi war ein halbes Jahrhundert lang ein renommierter Naturwissenschaftler - nur einer von zwei amerikanischen Chemikern, dem sowohl die National Medal of Science als auch die National Medal of Technology verliehen wurde - und viele Jahre Professor für Chemie an der Stanford University, bevor er in seinen Sechzigern ein neues Leben als produktiver Verfasser von Romanen, Theaterstücken und Autobiografien begann, in denen er in ,,didaktischer Absicht", wie er selbstbewusst erklärte, Naturwissenschaft und Literatur nahtlos miteinander verband.

Laut Aussage seines Sohnes, Dale Djerassi, verließ sein Vater am 28. Oktober das Haus, um wie jeden Morgen ein Fitnessstudio in San Francisco aufzusuchen, wo er bei weitem der älteste Kunde war. Er traf dort nie ein, sondern fuhr offenbar auf der Küstenstraße nach Süden zu einem Strand im San Mateo County, den Djerassi als langjähriger Besitzer der nahegelegenen SMIP-Ranch gut kannte, auf der auch das Djerassi Resident Artist Program angesiedelt ist, eine der bekanntesten Künstlerkolonien Amerikas. Am Vormittag des 29. Oktober, seinem 100. Geburtstag, wurde sein Wagen - ein seltenes rotes 1998er-Volvo-Cabrio - verlassen am Strand von San Gregorio entdeckt. Ein Jogger hatte im Sand nahe am Wasser einen Schuh mit fehlendem Schnürsenkel sowie einen Spazierstock gefunden, der später wegen seines ungewöhnlichen Ebenholzgriffs als der von Djerassi identifiziert wurde. Eine Suchaktion der Küstenwache brachte keine Hinweise.


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Reuters, 4. November 2023. CHEMIKER UND AUTOR CARL DJERASSI VERMUTLICH TOT.

Nach einem heftigen Sturm am Pazifik, der an den Stränden des San Mateo County schwere Schäden verursachte und etwaige weitere Spuren an der Stelle vernichtete, wo Djerassis Wagen, sein Schuh, sein Spazierstock und eine silberne Pillendose mit den Initialen CD gefunden wurden, ist davon auszugehen, dass der Naturwissenschaftler und Schriftsteller am Vorabend seines 100. Geburtstags Selbstmord durch Ertrinken beging. (Die Analyse des Doseninhalts ergab, dass es sich um Saccharin handelte.) An der privaten Trauerfeier, einem symbolischen Ausstreuen der Asche im San Gregorio Creek, der durch die SMIP (Sic manebimus in pacem) genannte Ranch der Familie fließt, nahmen nur die engsten Angehörigen teil: sein Sohn Dale, ein preisgekrönter Dokumentarfilmer, der auf der SMIP-Ranch lebt; sein Enkel Alexander, der renommierte Samuel-Dvir-Professor für Völkerrecht an der Georgetown University und regelmäßiger Radio-Kommentator; sowie Pamela Djerassi, das einzige Urenkelkind, genannt nach Djerassis Tochter Pamela, die 1978 Selbstmord beging und zu deren Andenken das Djerassi Resident Artist Program gegründet wurde. Ebenfalls anwesend war Djerassis Stieftochter Leah Middlebrook, Dekanin des College of Arts and Sciences der Universität Oregon und Tochter von Djerassis dritter Frau, Diane Middlebrook. Zum Andenken an Carl Djerassi bittet die Familie um Spenden für das American College in Sofia, Bulgarien, die Schule, an der Djerassi nach seiner Flucht aus Österreich im Jahre 1938 Englisch lernte, bevor er in die USA emigrierte.

Leserbrief in der New York Times vom 6. November 2023.

Lange Nachrufe in der New York Times und wichtigen europäischen Zeitungen meldeten, dass der renommierte Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi am 28. Oktober 2023, einen Tag vor seinem 100. Geburtstag, Selbstmord durch Ertrinken beging, obwohl seine Leiche nicht gefunden wurde. In Ihrem Nachruf führen Sie seine bekanntesten Leistungen an - 1951 die erste Synthese eines oralen


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Kontrazeptivums und im selben Jahr die erste Synthese von Cortison auf pflanzlicher Basis -, Leistungen, die ihm zahlreiche Auszeichnungen eintrugen, darunter 31 Ehrendoktorate. Außerdem erwähnt der Nachruf seine 11 Dramen und seine Roman-Tetralogie im Genre ,,Science-in-Fiction", beginnend mit ,,Cantors Dilemma", das derzeit die 41. Auflage erlebt.

Ich finde es erstaunlich, dass Ihr ansonsten so ausführlicher Nachruf keinen Hinweis auf Djerassis Roman ,,Marx, verschieden" enthält, der 1995 erschien und schon lange vergriffen ist. Dieser Roman handelt von der Obsession eines berühmten Schriftstellers, seine eigenen Nachrufe zu lesen, was ihn dazu bringt, seinen eigenen Tod bei einem Segelunfall im Long Island Sound zu inszenieren und sich incognito nach San Francisco zu begeben, um dort unter einem Pseudonym ein neues literarisches Leben zu führen. Djerassis Theaterstück ,,EGO" (später umbenannt in ,,Drei auf der Couch"), das knapp zehn Jahre nach dem Roman entstand, wurde in London und New York uraufgeführt, gefolgt von einer Deutschland-Tournee durch 68 Theater. Bemerkenswerterweise geht es auch in ,,EGO" um einen inszenierten Selbstmord. Als Autorin einer literarischen Monografie über Djerassi (Der intellektuelle Polygamist: Carl Djerassis Grenzgänge in Autobiografie, Roman und Drama. Berlin 2008) drängte sich mir die folgende Frage auf: Woher wissen Sie eigentlich, dass Djerassi tatsächlich tot ist? Vielleicht sitzt der Hundertjährige ja irgendwo und lacht sich ins Fäustchen.

Ingrid Gehrke
Professorin für Interkulturelle Kommunikation
Fachhochschule Joanneum
Graz, Österreich

Was veranlasst mich, mit der Meldung von meinem fiktiven Selbstmord zu beginnen? Ich bin nicht suizidgefährdet, bin es nie gewesen, obwohl ich schon in meiner Kindheit mit dem Thema Freitod in Berührung gekommen bin. Meine Tante Grete - eine echte Schönheit und Europameisterin im Fechten, die in Wien mit uns zusammen im Haus meiner Großmutter wohnte - nahm sich mit Mitte 30 das Leben, angeblich als Reaktion auf den Tod


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ihres Geliebten Alexander Moissi im Jahre 1935, dem damals wohl bekanntesten Schauspieler des deutschsprachigen Theaters. Nach unserer Einwanderung in die Vereinigten Staaten drohte meine Mutter bei zahlreichen Anlässen damit, Selbstmord zu begehen - eine Form der emotionalen Erpressung, die es mir schließlich unmöglich machte, noch länger darauf zu reagieren, und die schließlich zu unserer Entfremdung führte. Dennoch wurde sie 91 Jahre alt, sie starb an Demenz. Doch dann folgte die größte Tragödie meines Lebens: der Freitod meiner Tochter, auf den ich in diesem Buch an anderer Stelle näher eingehen werde.

Obwohl ich keine Selbstmordabsichten hege, habe ich im Hinblick auf eine besondere Situation gelegentlich schon an Selbstmord gedacht. Obwohl ich inzwischen allein lebe und anderen somit nicht zur Last fiele, würde mich die Vorstellung, Alzheimer oder eine ähnliche den Verstand beeinträchtigende Krankheit zu bekommen, zweifellos veranlassen, mich umzubringen. Tatsächlich habe ich, als ich in den 1990er Jahren mein Labor schloss, eine Flasche mitgenommen, die ich bei mir zu Hause versteckte, wobei ich nur meinem Sohn verriet, wo sie sich befindet. Es handelt sich


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um eine Flasche Kaliumcyanid, die ausreichen würde, ein ganzes Löwenrudel zu töten. Ich bat meinen Sohn, sich das Versteck gut einzuprägen und es mir zu zeigen, falls ich den entsprechenden Zustand geistiger Verwirrtheit erreichen sollte. Das Problem ist nur, dass ich in diesem Stadium nicht nur vergessen hätte, wo sich die Flasche befindet, sondern vermutlich auch vergessen würde, meinen Sohn danach zu fragen.


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Die bittersüße Pille

Wie gesagt, diese allerletzte Autobiografie ist in umgekehrter Richtung geschrieben, da sie am Ende beginnt, genau gesagt mit meinem vermeintlichen Freitod im Jahre 2023. Aber warum folgt darauf jetzt die Pille? Freilich ist die Pille durchaus eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung mit gewaltigen gesellschaftlichen Konsequenzen, aber meine Mitwirkung daran begann vor über 60 Jahren und wurde von mir bereits mehrfach dokumentiert, unter anderem in nicht weniger als drei Kapiteln meiner früheren Autobiografie (Die Geburt der Pille, Die Pille mit zwanzig, Die Pille mit vierzig: Was nun?). Abgesehen von einigen ausgewählten Passagen werde ich das dort Gesagte hier nicht wiederholen, sondern den interessierten Leser an die genannte Quelle verweisen. Also, warum mit der Pille fortsetzen?

Die Antwort lautet schlicht: weil ich an dieser Stelle die Schatten in meinem Leben in den Fokus rücken möchte, also auch die Schatten meiner eigenen Leistungen. Was meine persönliche Beziehung zur Pille betrifft, so haben mich in jüngster Zeit drei Dinge mehr beunruhigt, als ich erwartet hatte. Seit 2008 kam es immer wieder zu Vorfällen, die ich als Verleumdung einstufen würde, nämlich seit der Ära von Google und Wikipedia, wo jedes Nachrichtentröpfchen, und sei es noch so absurd, in Sekundenschnelle aufgesaugt und für alle Zeiten konserviert wird. Hätten sich diese Zwischenfälle zwei Jahrzehnte früher ereignet, als Google noch nicht existierte und Internet, selbst E-Mail längst nicht so verbreitet waren wie jetzt, so hätte ich sie höchstwahrscheinlich ignoriert. Heute dagegen lässt sich kein Fehler, ob aus Versehen oder mit Absicht, keine Beleidigung, und sei sie noch so primitiv und manipulativ, keine Behauptung, ob wahr oder falsch, löschen oder korrigieren. Alles ist schlicht im Cyberspace fixiert und wird von schludrigen Journalisten und einem großen Teil der surfenden Öffentlichkeit aufgepickt, die den ganzen Cybermüll für die in Stein gemeißelte Wahrheit halten oder zumindest für Wasser auf journalistische Mühlen. Ich beginne mit zwei Beispielen, weil das erste die Schlamperei vieler Massenmedien illustriert, während


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das zweite den unauslöschlichen Charakter einer vorsätzlich falschen Darstellung demonstriert.

Anfang 2009 wurde ich in San Francisco plötzlich von amerikanischen Reportern und Rundfunksendern mit Anfragen zu meiner angeblichen Verdammung der Pille bombardiert. Zunächst hielt ich das Ganze für eine Art Jux, doch eine Schnellsuche im Internet förderte eine Flut von Einträgen zutage (die noch heute existieren), zum Beispiel auf Sites wie ,,Christian and American", mit der Überschrift: ,,Carl Djerassi, Erfinder der Antibabypille, verdammt diese", um dann zu verkünden: ,,Der 85-jährige Carl Djerassi, der an der Erfindung der empfängnisverhütenden Pille beteiligte österreichische Chemiker, sagt heute, dass seine Mitentdeckung zu einer ,demografischen Katastrophe‘ geführt hat. Die Attacke begann mit einem persönlichen Kommentar von Carl Djerassi in der österreichischen Tageszeitung Der Standard, wo er das ,Horrorszenario‘ um- riss, zu dem es aufgrund der veränderten Bevölkerungspyramide gekommen ist, für das seine Erfindung mitverantwortlich ist."

Ich fand schnell heraus, dass nicht nur am rechten Rand angesiedelte Publikationen wie ,,Christian and American", sondern auch etablierte Zeitungen wie der englische Guardian ähnliche Artikel auf ihren Websites hatten. Das veranlasste mich am 18. Januar 2009, einen Widerruf zu verlangen:


P. 102

Heimat(losigkeit)

In keiner meiner früheren Autobiografien, und in meinen schriftstellerischen Arbeiten nur sehr sporadisch, habe ich das Thema Heimat explizit angesprochen. Obwohl ich dieses Kapitel in Englisch schreibe, der Sprache meiner Wahlheimat, benutze ich das deutsche Wort ,,Heimat", weil es in meiner Muttersprache Konnotationen hat, die das englische Wort home schlicht nicht besitzt. Für mich betont ,,Heimat" wesentlich nachdrücklicher als im Englischen die zwischenmenschlichen Beziehungen, mehr als eine rein örtliche Bindung. Und so werde ich darlegen, warum ich seit über 70 Jahren keine Heimat in dem Sinne habe, wie der Duden sie definiert: oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend. Auch wenn ich vielleicht keine Heimat habe, so habe ich doch ein home, ein Zuhause, genau gesagt sogar vier, was eigentlich sehr erfreulich klingt. Doch auch die Schattenseiten werden sich bald zeigen.


P. 186

,,Jude"

Ich bestehe darauf, die Überschrift dieses Kapitels als ein Wort mit sechs Buchstaben zu betrachten, denn die Anführungszeichen sind ein unverzichtbarer Bestandteil dessen, was ich zu meiner jüdischen Identität zu sagen habe - ein nur allzu oft düsteres Thema, das die ganze Skala von der stolzen Bestätigung des Etiketts ,,Jude" über das stillschweigende Eingeständnis bis hin zum schmählichen Verleugnen umfassen kann. Zwei dieser Alternativen trafen im Laufe meines Lebens hin und wieder auch auf mich zu.


P. 236

,,Professor für Professionelle Deformation"

Professor ist ein gewichtiger Titel, der mit Hochachtung, gelegentlich mit Pedanterie und oft sogar mit einer gewissen Angst verbunden ist. Doch selbst auf die Gefahr hin, beschuldigt zu werden, in Anführungszeichen verliebt zu sein, möchte ich darauf hinweisen, dass sie, genau wie in einigen anderen Kapitelüberschriften, dem Wort ,,Professor" Nuancen verleihen, die weit über die schiere Gewichtigkeit dieses Titels hinausgehen. In den über sechs Jahrzehnten meines Professorendaseins waren es zunehmend die Nuancen, die mich beschäftigten. Im Folgenden werde ich schildern, wie einige dieser Nuancen mein berufliches und somit auch mein persönliches Leben beeinflusst haben. Aber zuerst eine Bemerkung zur Überschrift.

,,Déformation professionelle" ist ein eleganter französischer Ausdruck, der im Allgemeinen abwertend gemeint ist und meist als ,,berufsbedingte Deformation" übersetzt wird. Wikipedia definiert ihn als die ,,Neigung, eine berufs- bzw. fachbedingte Methode oder Perspektive unbewusst über ihren Geltungsbereich hinaus auf andere Themen und Situationen anzuwenden, was zu Fehlurteilen, eingeengter Sichtweise oder sozial unangemessenem Verhalten führen kann".

Ich dagegen habe mich entschieden, diese Bezeichnung als Kompliment aufzufassen, wie eines der heitersten Gedichte aus meiner eher düsteren Gedichtsammlung Ein Tagebuch des Grolls beweist.

DÉFORMATION PROFESSIONELLE

Irgendwie klingt
Déformation professionelle
Viel eleganter
Als jede Übersetzung.


P. 237

Die Franzosen sorgen dafür, Dass es klingt,
Wie eine seltene Krankheit,
Ein verlockendes Laster.

Die déformation professionelle
Von der ich spreche,
Ist Leonardos Malaise,
Die ihm zur Tugend gereichte.

Oder Samuel Johnson - auf so exquisite Weise deformiert,
Sans déformation professionelle,
Nur ein gewöhnlicher Dr. Johnson,
Deformiert, DER Doktor Johnson.

Ich suche einen Job
Als Professor für Professionelle Deformation.
Falls Sie von einer freien Stelle wissen,
Rufen Sie mich an. Auf meine Kosten.

Universalgenies wie Leonardo da Vinci oder vielseitig Gebildete wie Dr. Samuel Johnson, die sich nie damit begnügten, innerhalb der Grenzen eines einzigen künstlerischen oder beruflichen Betätigungsfeldes zu verharren, waren für mich heroische Vorbilder, denen es nachzueifern galt. Als ich begann, die Standardpraktiken eines Chemieprofessors hinter mir zu lassen, wurde ich ,,deformiert" und habe dadurch das Niveau meines professoralen und meines beruflichen Lebens in einer Weise erweitert und angehoben, die ich keineswegs verteidigen muss. Vielmehr halte ich diese Deformation für etwas Verlockendes, wie das Gedicht zeigt, und die Reaktion meiner Studenten hat dies oft bestätigt. Es ist jedoch fraglich, ob alle meine Chemikerkollegen an der Stanford University, wo ich über ein halbes Jahrhundert, länger als jedes andere Mitglied des Fachbereichs Chemie, tätig war, diese Meinung teilen. Ich sage dies, weil die Chemie, neben der Physik, die exakteste der exakten Wissenschaften ist, der Fels, auf dem die biomedizinische, die Umwelt- und die Materialwissenschaft ihre molekularen


P. 238

Strukturen aufbauen; gleichzeitig ist sie auch die eigenständigste unter den exakten Wissenschaften. Leider errichten viele ihrer akademischen Vertreter stolz hohe, wenn nicht sogar undurchdringliche Mauern, die eine sinnvolle intellektuelle Interaktion mit nicht naturwissenschaftlichen Fachbereichen verhindern, und es werden kaum Versuche unternommen, diese Kluft zu überbrücken. Obwohl sich Chemiker in dieser Zeit der grassierenden Chemophobie ständig in die Defensive gedrängt fühlen, sind die meisten nicht gewillt, naturwissenschaftliche Laien für ihre Disziplin zu gewinnen, nicht einmal innerhalb der akademischen Welt. Mit missionarischer Arbeit dieser Art sind in der akademischen Chemikergemeinschaft kaum Pluspunkte zu sammeln. Nach dieser düsteren Anmerkung werde ich nun chronologisch fortfahren, ganz im Gegensatz zu der Vorgehensweise, derer ich mich in den meisten Kapiteln bisher bedient habe.


P. 292

,,Schriftsteller"

Auf der österreichischen Briefmarke, die mein Gesicht trägt und im Kapitel ,,Heimat(losigkeit)" abgebildet ist, werde ich als Romancier und Chemiker bezeichnet. ,,Romancier" ist ein schönes Wort, das ich liebend gern für mich in Anspruch nehme, und darum möchte ich in diesem Kapitel aufzeichnen, wie ich mich vom Chemiker - der wie alle Naturwissenschaftler, die publizieren, ipso facto ein Schriftsteller ist - in jemanden verwandelte, der im fortgeschrittenen Alter beschloss, in den Mantel des Romanautors zu schlüpfen und in der Folge auch in den des Bühnenautors. Ich wäre nicht unglücklich, falls dieser Mantel dereinst mein Totenhemd sein sollte. Aber während die Aufsätze und Artikel eines Naturwissenschaftlers vorrangig der Übermittlung von Erkenntnissen dienen und unter diesem Gesichtspunkt akzeptiert und beurteilt werden, einschließlich ihrer didaktischen Komponente, würde ein Romancier didaktischen Ballast dieser Art ablehnen, da Lehrhaftigkeit, sofern sie nicht gut versteckt ist, bei Schriftstellerkollegen und Literaturkritikern für ein Werk oft den Todesstoß bedeutet. Hinzu kommt, dass für den wissenschaftlichen Autor der Inhalt zählt, während Stil nur schmückendes Beiwerk ist. Niemand würde das bei einem Romancier zu sagen wagen. Ich betone das, um zu erklären, weshalb ich mich der Anführungszeichen im Titel dieses Kapitels bediene, um meine eigenen literarischen Arbeiten zu beschreiben, denen ganz bewusst zumindest ein Hauch von Lehrhaftigkeit anhaftet. Wenn die Worte in der Ars Poetica von Quintus Horatius Flaccus, ,,lectorem delectando pariterque monendo" (den Leser erfreuen und unterweisen zugleich), auch 2.000 Jahre später noch beifällig als zutreffende Beschreibung des Wortes ,,didaktisch" zitiert werden, was spricht dann dagegen, dass ich mich in dem, was Horaz predigte, zumindest versuche?

Doch statt mit dem Thema fortzufahren, werde ich zunächst wiederum abschweifen und mit einer wahrheitsgetreuen Schilderung gewisser sexueller Fantasien beginnen, die bereits in meiner Teenagerzeit anfingen.


P. 376

,,Sammler"

Sammler von was? Streichholzschachteln sind etwas anderes als seltene Handschriften, Baseballkarten sind keine impressionistischen Gemälde. Aber warum sammelt man überhaupt? Das sind Fragen, die ich mir in dieser eher späten introspektiven Phase meines Lebens immer häufiger stelle. Eine knappe Antwort liefern zwei Strophen aus dem langen Gedicht Die Uhr läuft rückwärts, einem brutal ehrlichen poetischen Resümee meines Lebens, das ich an meinem 60. Geburtstag schrieb:

Achtundvierzig Jahre, fünfundvierzig,
Dann einundvierzig.
Ach ja, die Jahre des Sammelns,
Gemälde, Skulpturen, Frauen.
Vor allem Frauen.
Doch war dies nicht auch die Zeit,
Als seine Einsamkeit begann?
Oder begann sie schon früher?
Warum sollte man sonst sammeln,
Wenn nicht, um eine Leere zu füllen?

Die letzte Zeile trifft den Nagel auf den Kopf. Doch wenn man mit 60 eine Leere empfindet, ist das etwas völlig anderes als 30 Jahre später, und zwar einfach deshalb, weil die Möglichkeiten, sie auszufüllen, im späten Leben wesentlich begrenzter sind. Was Beziehungen betrifft, zu Geliebten, Freunden, selbst zu flüchtig Bekannten, hat ein einsamer Mann mittleren Alters bei weitem mehr Chancen. Wie ich bereits gesagt habe, besteht meine Lösung derzeit darin zu produzieren, statt zu sammeln, zu arbeiten, statt zu jammern, mich zu bewegen, statt mich auszuruhen. Dass ich alle acht bis 14 Tage von Stadt zu Stadt fliege, bezeichnen viele mit Recht als verrückt. Aber meine häufigen Reisen sind ein Mittel gegen meine Einsamkeit.


P. 377 Wie das Gedicht zeigt, habe ich früher jahrzehntelang Kunst gesammelt. Die Tatsache, dass ich diese Tätigkeit inzwischen eingestellt habe, bedeutet nicht, dass es sich nicht zu erzählen lohnt, welche Rolle die Kunst in meinem Leben spielt. Der Grund, warum ich mit dem Sammeln aufgehört habe, ist nicht nur der, dass an meinen Wänden kein Platz mehr ist - dass ich fortfuhr, die Werke von Paul Klee länger als die jedes anderen Künstlers zu sammeln, lag unter anderem daran, dass er im kleinen Format arbeitete. Davon abgesehen kam ich zu dem Schluss, dass die direkte Förderung künstlerischen Schaffens inzwischen sinnvoller ist als der Erwerb eines vollendeten Werkes. Ich verschenke auch weiterhin Kunst, die ich gesammelt habe - was manchmal leichter gesagt als getan ist, wie die an anderer Stelle geschilderten Misslichkeiten beweisen, der Stadt Wien eine wertvolle George-Rickey-Skulptur als Geschenk zu überlassen -, aber mein eigentlicher Schwerpunkt ist heute die Unterstützung des Djerassi Resident Artists Program (DRAP). Obwohl der Freitod meiner Tochter den Anstoß dazu gab, hat die Stiftung inzwischen auch ein Eigenleben entwickelt. Sie hat mich gelehrt, dass diese höchste Form des Mäzenatentums die Bewertung des Produkts der Arbeit eines Künstlers weitgehend von der Bewertung seiner Kreativität trennt, was den Effekt der Subjektivität und des Ungewohnten reduziert, wenn nicht sogar völlig eliminiert. Denn sind nicht gerade die wagemutigsten Künstler diejenigen, die im Allgemeinen am wenigsten gefördert werden, eben weil sie ungewohntes Terrain betreten, ästhetisch wie intellektuell? Dass ich für den kürzlich erfolgten Bau weiterer Einrichtungen (benannt zur Erinnerung an meine verstorbene Frau Diane Middlebrook) auf dem Gelände der Stiftung weitgehend verantwortlich bin, empfinde ich als eine gewisse Befriedigung, die mehr auf der Erwartung der Werke beruht, die dort von den rund 40 Künstlern und Schriftstellern geschaffen werden, die wir nun pro Jahr zusätzlich aufnehmen können, als lediglich auf der Betrachtung der materiellen Realität der architektonisch ansprechenden Gebäude.

Meine frühere Sammlertätigkeit lässt sich in vier Phasen unterteilen. Als ich in den 1950er Jahren in Mexiko lebte, war ich von der


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präkolumbianischen Kunst fasziniert und besuchte alle bekannten und einige der weniger zugänglichen archäologischen Stätten. So begann ich präkolumbianische Statuen zu sammeln, und zwar so lange, bis Kunstwerke dieser Art in den 1960er Jahren nicht mehr aus Mexiko ausgeführt werden durften. Zu diesem Zeitpunkt war mein persönlicher Wohlstand bereits angewachsen dank meiner frühen Investition in Syntex-Aktien , sodass ich meiner nächsten Passion frönen konnte: mich Werken von Künstlern zuzuwenden, die sowohl Maler als auch Bildhauer waren, darunter Picasso, Giacometti, Degas, Marini, Moore und andere, die selbst dann Berühmtheit erlangt hätten, wenn sie nur einem ihrer Talente treu geblieben wären. Berufliche Bigamie oder Polygamie (nicht zu verwechseln mit Promiskuität!) hat mich immer gereizt, was vermutlich der Grund ist, weshalb gerade Paul Klee zum Gegenstand meiner längsten, umfassendsten und anspruchsvollsten Sammlertätigkeit wurde. In der vierten Phase waren es dann moderne lebende Künstler: insbesondere der amerikanische kinetische Bildhauer George Rickey, aber auch viele Künstler, die zur einen oder anderen Zeit DRAP-Stipendiaten gewesen waren. In den 1980er Jahren verkaufte ich, außer den Klees, die gesamte Sammlung hochrangiger toter Künstler aus meiner mittleren Sammlerphase, um durch die DRAP-Stiftung lebende Künstler zu fördern ein Akt der Liquidation, der klug, richtig und logisch war in Anbetracht dessen, wofür die Erlöse verwendet wurden, aber dennoch so traumatisch, dass ich die Erinnerung daran nicht wieder aufleben lassen möchte. Damit bleibt Paul Klee, und über ihn zu schreiben, ist erfrischend, lehrreich und gelegentlich sogar amüsant. Ich habe meine Begeisterung für Klee schon mehrfach dokumentiert und gebe im Folgenden eine Collage aus Katalog- Essays über Klee wieder, die ich in den letzten Jahrzehnten verfasst habe.


P. 399

Bonobos

Mein erster Kontakt mit Zwergschimpansen (Pan paniscus), heute allgemein Bonobos genannt, fand vor 40 Jahren statt. Das Ganze war aufregend und amüsant und selbst für einen Weltenbummler wie mich ungewöhnlich, denn es trug sich in der Provinz Équateur in Zaire zu, einem Land, in dem ich noch nie gewesen war und das ich später nie wieder besucht habe. Dieses afrikanische Abenteuer war jedoch auch eine durchaus wichtige Episode in meinem Leben als Naturwissenschaftler, da ich mich als solcher immer dafür eingesetzt habe, den auf dem Gebiet der Naturwissenschaften herrschenden Abstand zwischen den reichen und den armen Staaten zu verkleinern. Der Grund, weshalb die Bonobos im englischen Titel meiner 1992 erschienenen Autobiografie The Pill, Pygmy Chimps, and Degas’ Horse gleich nach der Pille und noch vor Edgar Degas kommen, wird aus der folgenden Passage deutlich:

Ich hatte festgestellt, daß Zaire der natürliche Lebensraum der größten Anzahl von Gorillas und Schimpansen in der Welt ist. Außerdem beschäftigte mich damals das Fehlen geeigneter Tiermodelle für die Kontrazeptiva-Forschung. Die Fortpflanzung ist die artspezifischste Eigenschaft lebender Organismen; und die höheren Primaten, besonders die Schimpansen, galten als für diesen Zweck am geeignetsten. Doch wegen ihrer Größe, ihrer Kraft und ihrem unbändigen Temperament sind sie nicht leicht zu handhaben; zudem brachten die Schimpansen-Zuchtstätten in den Vereinigten Staaten nur eine begrenzte Anzahl von Tieren hervor, und das genau zu dem Zeitpunkt, als die Food and Drug Administration für die Zulassung hormoneller Kontrazeptiva zehnjährige toxikologische Studien an Affen vorschrieb. Deshalb, und auch wegen der Kosten, mußten die weniger geeigneten niederen Primaten verwendet werden. Ich wußte, daß Pan paniscus, allgemein Zwergschimpanse (oder Bonobo, nach dem afrikanischen Sprachgebrauch) genannt, höchstens dreiviertel so groß war wie der gewöhnliche Schimpanse (Pan troglodytes) und daß er auf die Liste der bedrohten Tiere gesetzt worden war. Ich fragte mich, ob


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wir erwägen sollten, Pan paniscus als biomedizinisches Tiermodell zu benutzen und gleichzeitig etwas gegen seinen bedrohten Status zu tun. Das müßte doch allen recht sein, dachte ich, den Wissenschaftlern, die sich mit Geburtenkontrolle beschäftigten, und den Umweltschützern, denen es um die Erhaltung einer schwindenden Tierart ging. Rückblickend bezweifle ich, daß ich diesen scheinbar harmlosen Vorschlag gemacht hätte, wenn ich einige seiner hochpolitischen Konsequenzen vorausgesehen hätte.

All dies habe ich in meinem Buch, das nunmehr vergriffen ist, in allen Einzelheiten geschildert, und zwar in dem Kapitel ,,Zwergschimpansen", das ich in dieser allerletzten Autobiografie in gekürzter Fassung zitieren will. Offenbar haben die Zwergschimpansen keinerlei Schatten auf mein Privatleben geworfen, sodass es kaum gerechtfertigt erscheint, ihnen hier Platz einzuräumen. Wie Sie am Ende dieses Kapitels sehen werden, liefern spätere Entwicklungen doch noch gute Gründe, warum die Bonobos auch in meiner letzten Autobiografie auftauchen.


P. 434

Was wäre, wenn?

Wenn im alten Griechenland Rechtsgelehrte nach einem interessanten Fall zusammenkamen, stellten sie sich provozierende Fragen wie: ,,Was wäre, wenn das und das geschehen wäre?", ,,Was wäre, wenn er das und das getan hätte?", ,,Was wäre, wenn ...?" Solche Fragen sollen der Ursprung der Dichtung gewesen sein. ,,Was würde ich heute anders machen, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte?" Auch daraus folgt natürlich eine Art von Dichtung. Vielleicht ist es auch die Art von Dichtung, der sich der Mensch am häufigsten überlässt, wenn sich sein Leben dem Ende nähert.

Ich weiß noch, dass ich mich in den 1930er Jahren als Teenager in Wien zum ersten Mal mit der Frage ,,Was wäre, wenn?" zu beschäftigen begann, nachdem ich Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit gelesen hatte und darüber nachdachte, wie anders die Geschichte verlaufen wäre, wenn die Protagonisten der 14 Episoden jeweils einen Schritt in eine andere Richtung gemacht hätten. Eine weitere Begebenheit, an die ich mich erinnere, trug sich ein Vierteljahrhundert später zu, bei einem Mittagessen mit Fred Terman, dem legendären Provost der Stanford University und Begründer des Silicon Valley. Ich war aus Mexico City angereist, um mit Terman über die mir angebotene Professur in Stanford zu sprechen. Während der Unterhaltung erwähnte ich ein Buch des australischen Journalisten Alan Moorehead über die Russische Revolution, das ich auf dem Flug nach San Francisco gelesen hatte. Ich bemerkte, wie gut Moorehead die Figur Kerenskijs gezeichnet hatte und wie ganz anders die Geschichte verlaufen wäre, wenn dieser gemäßigte russische Revolutionär nur in wenigen Fällen eine andere Entscheidung getroffen hätte, was möglicherweise verhindert hätte, dass die Bolschewiken die Macht ergriffen. Terman beugte sich augenzwinkernd über den Tisch. ,,Das sollten Sie Kerenskij selbst sagen. Er sitzt direkt hinter Ihnen." Ich hatte angenommen, Kerenskij sei tot, doch nun erfuhr ich, dass der kleine alte Mann, der da ganz allein sein Sandwich aß, ein Senior Fellow der Stanforder Hoover Institution war. Ich dachte über den Unterschied zwischen seinem Schicksal und dem seines Mitrevolutionärs


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Leon Trotzkij nach (dessen Enkel seinen Nachnamen in Wolkow geändert hatte und damals einer meiner Mitarbeiter bei Syntex war), den Stalins Schergen bis nach Mexiko verfolgt und ermordet hatten.

Zu diesem Zeitpunkt war ich 37 Jahre alt, zu jung noch, um Vermutungen anzustellen, was ich vielleicht anders gemacht hätte, wenn ich die Wahl gehabt hätte, aber alt genug, um darüber nachzudenken, was aus mir geworden wäre, wenn zwei verhängnisvolle Ereignisse nicht stattgefunden hätten. Was wäre, wenn es 1938 nicht zum Anschluss durch die Nazis gekommen wäre, wenn die Juden nicht aus Österreich vertrieben worden wären? Als einziges Kind zweier Ärzte, die beide zu Hause praktizierten, hätte ich zweifellos in Wien Medizin studiert und wäre nicht Chemiker, sondern praktischer Arzt geworden. Und was wäre, wenn ich etwa zu dieser Zeit keine tuberkulöse Infektion und keinen Skiunfall gehabt hätte, was später dazu führte, dass mein Knie dauerhaft versteift werden musste, weil die Tuberkelbazillen aus meiner Lunge sich im Kniegelenk angesiedelt hatten? Wie die meisten Angehörigen dieser Flüchtlingsgeneration hätte ich in der amerikanischen Armee gedient und nicht den Luxus genossen, spielend College und Studium zu absolvieren, danach zu promovieren und meine formale Ausbildung in dem Jahr abzuschließen, in dem der Krieg endete und die Soldaten, die überlebt hatten, heimkehrten und ihre Ausbildung begannen.

Doch diese Überlegungen verblassen bis zur Bedeutungslosigkeit, wenn ich daran denke, wie sich die Frage ,,Was wäre, wenn?" am 5. Juli 1978 stellte; sie hat mich seit dem Freitod meiner Tochter Pamela nicht mehr losgelassen. Hätte ich irgendetwas tun können, um diese größte Tragödie meines Lebens zu verhindern? In jedem meiner früheren autobiografischen Bücher kam ich gegen Ende auf diese Frage zurück, und ich muss dies nun wieder tun, da nie ein dunklerer Schatten auf mein Leben gefallen ist - ein Schatten, der sich nie gelichtet hat. Das erklärt auch, warum das erste Kapitel dieses Buches mit meiner persönlichen Einstellung zum Freitod beginnt. Und da ein solcher Akt der Selbstzerstörung unweigerlich eine Botschaft an die Hinterbliebenen enthält, weil der Akt an sich schon eine Botschaft ist, selbst wenn kein Abschieds


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brief vorliegt, fühle ich mich veranlasst, hier weite Teile meiner Schilderung des Freitods meiner Tochter aus einer früheren Autobiografie wiederzugeben. Ich möchte, dass der volle Umfang ihrer Botschaft nicht vergessen wird, vor allem deshalb, weil meine Reaktion darauf eine Dynamik entwickelte, die bis heute fortwirkt.


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The Big Drop

Ein Buch, in dem sich ein alternder Mann darauf konzentriert, die Schatten in seinem Leben aufzuspüren - ob real oder imaginär -, muss nicht unbedingt mit einer dunklen Note enden. Stattdessen habe ich beschlossen, mit einem Kapitel aus meiner vergriffenen Autobiografie zu schließen, um zu beweisen, dass ich mich nicht immer ernst nehme, dass ich einen gewissen Sinn für Humor besitze und dass Pannen oder Rückschläge, von denen es in diesem Kapitel nur so wimmelt, nicht zwangsläufig als persönliche Katastrophen bezeichnet werden müssen, sondern durchaus Stoff für amüsante Tischgespräche liefern können.